Die Südsee… unvermessener Raum, unerschlossene Wasserweiten, breite, grüne Buchten, Inseln mit Kannibalen, hitzeflirrende Träumereien, Tattoos & Tanz, schwache Körper und starke Drinks – so wird sie bei Herman Melville, Jack London, W.S. Maugham oder H.S. Thompson beschrieben: als ein Abenteuer. François Garde hat nun einen „Brief- und Abenteuerroman“ vorgelegt, wie das Beck’sche Verlagshaus es auf dem Klappentext formuliert. Dabei ist der Roman zugleich ein Panoptikum der Humanwissenschaften, quasi als „Abenteuer Wissenschaft“. Der Proband dieses literarischen Experimentes ist Narcisse Pelletier, ein französischer Seemann, der 1843, achtzehnjährig, an der Nordküste Australiens zurückgelassen wird. Zunächst hegt er die Hoffnung, sein Schiff werde umkehren. Doch mit fortlaufender, zehrender Dauer resigniert er. Er ist am Ende, und er ist auf einer einsamen Insel. Nichts aber ist dieses Buch weniger als eine Robinsonade. Denn ein Kontakt mit den Eingeborenen ist Narcisse unvermeidlich. Es ist kein Kampf eines Mannes mit der Einsamkeit der Insel, sondern eine Annäherung an das Fremde, an die archaischen Aborigines. Um zu überleben, muss Narcisse sie beobachten, von ihnen lernen. Hier zählt sein französischer Erfahrungsraum nichts. Aber das ist nur ein Strang des dialogischen Romans. Nach weiteren achtzehn Jahren wird ein Weißer inmitten einer Gruppe Wilder aufgesammelt: Er spricht nicht ihre Sprache, sein Körper ist mit Tätowierungen der Aborigines bedeckt, seine Haut ist sonnengebräunt, aber zweifelsfrei weiß. Auf seinen Expeditionen stößt der aufstrebende Geograf Octave de Vallombrun auf den Weißen Wilden. Für ihn steht fest, dass der Wilde ein Franzose namens Narcisse Pelletier ist, den er zurück in die Zivilisation führen kann, aber auch eine Quelle, um aus den Riten und Gebräuchen der Aborigines zu schöpfen. Doch Narcisse schweigt beharrlich zu allem, was ihm in Australien widerfahren ist. So bleibt Octave nur die Möglichkeit, kontinuierlich nachzufragen. Der junge Geograf verlässt den Bereich des Wissens und begibt sich auf das unsichere Terrain des Forschens. Er analysiert den vormaligen Seemann Narcisse, seziert ihn förmlich mit dem Skalpell der Wissenschaften. Enthusiastisch, doch penibel präzise und rational beschreibt der Forscher im zweiten Strang des Romans sein Experiment in Briefen an den Präsidenten der renommierten Société de Géographie. Die europäische Wissenschafts-Elite indes ist skeptisch: Könnte Narcisse nicht ein Hochstapler sein, der mit der Gelehrtenwelt Schabernack triebe? Fürwahr, die Wissenschaft war schon damals eine Schlangengrube. Der Adelsspross Octave muss sich mit seinem schüchternen, etwas tollpatschig erscheinenden Probanden Narcisse den Scharen der Skeptiker stellen. Schlimmer sind die Schaulustigen: Für sie ist Narcisse eine anziehende Attraktion. Die Einen wollen ihn am liebsten im Museum sehen, die Anderen auf dem Jahrmarkt – doch Octaves Herzenswunsch ist nur, den Wanderer zwischen den Welten, zwischen Australien und Europa, glücklich zu sehen. François Garde hat die Hausaufgaben des akribischen Schriftstellers in seinem furiosen Erstling wohlfeil erledigt. Einen präzisen und authentischen Fall hat er dem Archiv-Schimmel entrissen, um ihn auf der Bühne der Literatur schillernd zu inszenieren. Seine Wurzeln liegen im französischen Diskurs des 19. Jahrhunderts, den er eifrig studiert hat, als die Grenzen von Ethnologie, Anthropologie und Psychologie neu vermessen wurden. Sein symptomatischer Charakter Octave de Vallombrun ahnt, dass die herkömmlichen wissenschaftlichen Disziplinen nicht genügen werden, um Narcisse zu analysieren. Erst das 20. Jahrhundert (die moderne Ethnologie etwa) wird glauben, dieses Potential bergen zu können. Es ist ein bewegender, zutiefst menschlicher Roman, den Garde vorlegt, eine Hommage an den Brief- und Abenteuerroman, beide spezifisch literarische Gattungen ihrer Zeit, hier eindrucksvoll kombiniert, zu verorten irgendwo zwischen Malinowski und Marcel Mauss.
Johannes Bolte
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