Von Huren, Darmbeschwerden und dem rechten Glauben
Luther, der Vogelfreie, vegetiert auf der Wartburg vor sich hin. Der Teufel und die Verdauung sind es, die den jungen Mann plagen, der nur ein Buch übersetzen will, und dann ist da noch dieser Landsknecht, der abgeordnet wurde, ihn zu bewachen, und ihn mit seiner altgläubigen Ader und stumpfsinnigem Aberglaube, diesen Binsenweisheiten des Volkes, malträtiert, dieser Landsknecht, der abgeschnittene Ohren zur fachgerechten medizinischen Weiterverwendung mit sich trägt. Ist er ein Vexierspiel des Teufels, der ihn, Luther, jeden Abend in seiner kargen Kemenate heimsucht? Sind seine immensen, intensiven und lautstarken Methan-Exzesse die Folge physischer Überanstrengung, übermäßigen Zwiebelkonsums – oder eine Strafe Gottes?
Luthers Aufenthalt auf der Wartburg ist das Thema von Feridun Zaimoglus Roman „Evangelio“, und die Sprache ist die tragende Säule dieses außergewöhnlichen Stückes Prosa. Zaimoglu vermag es, die Welt nicht nur mit den Augen Luthers zu sehen, sondern sie auch so zu schildern – mit der bildhaften, ungestümen Sprache des sechzehnten Jahrhunderts – und hebt sich so deutlich aus der sintflutartigen Luther-Publizistik hervor. Der Autor folgt seinen Protagonisten bei Jagdszenen, Hinrichtungen, bis in die Hurenhäuser und Aborte. Eine ungewöhnliche Handlung für einen historischen Roman, der nur einige Monate im Leben Luthers fokussiert; eine Zeit, der die meisten Autoren nichts abgewonnen hätten, lebte der spätere Medienstar Luther doch zurückgezogen auf der Wartburg.
Wie in einem Daumenkino reiht Zaimoglu Szene an Szene, ohne die Fabulierlaune zu verlieren. Entstanden ist für mich der Luther-Roman des zweiten Jahrtausend nach Christi Geburt – und ein Schaustück für andere Autoren historischer Prosa. Man muss sich eben nicht in die Gewänder vergangener Jahrhunderte zwängen, um die Geschichte nachzuempfinden, und ein historischer Roman braucht keine fünf Akte, braucht keinen Spannungsbogen, der so alltägliche Dinge wie Liebe und Tod zu vermeintlich außergewöhnlichen Dingen macht. Im Gegenteil: Zaimoglu fokussiert gerade das Banale, um es zu einem wortgewaltigen Stück Literatur zu erheben.
Johannes Bolte
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