Chiogozie Obioma: Der Dunkle Fluss
Arm ist er und hungrig, der ehemalige Jura-Student Raskolnikow, der über Napoleon grübelt und zu der Erkenntnis gelangt, dass nicht jeder Mensch alles darf. Nur Menschen von der Größe Napoleons hätten das Privileg zur Rücksichtslosigkeit. Und für einen genialischen Geist hält er sich schon, auch wenn das die Welt – und allen voran seine Pfandleiherin – nicht wahrhaben will. Also nimmt Raskolnikow ein Beil, begibt sich zu seiner Pfandleiherin und erschlägt sie und ihre Schwester, die zufällig im Raume ist, kaltblütig mit dem Beilrücken. Keine Augenzeugen, keine Spuren. Das perfekte Verbrechen? Der Mörder bei Dostojewski jedenfalls kann den psychischen Druck, der auf seinen ausgezehrten Schultern lastet, nicht tragen. Raskolnikow stellt sich. Im sibirischen Arbeitslager findet er sich neu.
Was treibt den, der Gewalt antut, an – und wie kommt er damit zurecht? Dieser Frage hat sich auch der nigerianische Autor Chiogozie Obioma in seinem Romandebüt „Der dunkle Fluss“ gestellt. Benjamin ist der jüngste in der Schar der drei älteren Brüder Obembe, Boja und Ikenna. Als ihr Vater versetzt wird, bedeutet das ein Ende des väterlichen Regimes. Der alte Herr schaut bloß an den Wochenenden vorbei – doch nebenbei bleibt für die vier Brüder im Südwesten Nigerias in den Neunzigern viel Zeit, ihr eigenes Ding durchzuziehen. Für sie bedeutet das Angeln am Omi-Ala, der als grausamer und dunkler Fluss verrufen ist, an dessen Ufern in der Vergangenheit oft genug Verbrechen begangen wurden. Hier steht die Kirche einer eigenartigen afrikanisch-christlichen Erlöser-Gemeinde. Und hier treibt sich Abulu, der verhasste Verrückte, Vagabund und Freizeit-Prophet, herum. Dem ältesten der Brüder, Ikenna, macht er in einer ekstatischen Minute eine Prophezeiung: Er wird sterben wie ein Hahn von der Hand eines Fischers – und, noch präziser – von der eines Bruders.
Wie ein Virus verbreitet der Gedanke sich in Ikennas Kopf: Er zieht sich zurück von seiner Familie, sucht Händel und Streit und ist allzeit gereizt. Wenn er nicht schweigt, schreit er oder lässt seine Fäuste sprechen. Jeder Versuch, Ikenna zu beschwichtigen, wird von ihm als Provokation aufgefasst. Für ihn steht fest, dass er von seinem Bruder Boja getötet werden wird. Für Boja ist das eine abstruse Situation. Er erkennt Ikenna nicht wieder. Es kommt zu einem Kampf, in dem beide Brüder sterben.
Der Vater findet zu Hause die von dem ambivalenten Gemisch aus Trauer und Hass ergriffenen verbliebenen Söhne vor – und seine Frau, die überall Spinnen sieht und den Geist von Ikenna. Nun liegt es an Obembe und Benjamin, die Familienehre wiederherzustellen. Dazu muss Abulu, der mit seiner Prophezeiung Anlass des Leids war, beseitigt werden. Mit Angelhaken bewehrt ziehen die Brüder zum dunklen Fluss, um Abulu aufzulauern…
Sie sind nicht arm und haben keinen Hunger wie Raskolnikow. Aber sie haben einen mörderischen Plan – und sie führen ihn aus. Der international hochgelobte Erstling des jungen nigerianischen Autors Obioma beginnt als einfaches Panoptikum kindlicher Erinnerungen und Gefühle, bevor er zu einer Narration über Verbrechen und Strafe wird. Die Protagonisten sind keine weltklugen Männer, sondern Kinder inmitten einer politisch unruhigen Gegenwart, die der Kraft der düsteren Prophezeiung Abulus erliegen. Sie weinen häufiger, als sie sich prügeln, aber irgendwann haben sie den Grenze dessen, was in einer kindlichen Träne erfassbar ist, einfach überschritten – und was dann?
Johannes Bolte
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